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Sprechen mit dem Feind: "Bald wird die Ukraine sowieso uns gehören"

Die meisten Ukrainer empfinden Gespräche mit früheren Freunden und Verwandten in Russland als sinnlos, die meisten privaten Kontakte liegen brach. Auf der Plattform Chatroulette zeigt sich, dass Russen und Ukrainer in komplett unterschiedlichen Welten leben.

Zwischen Ukrainern und Russen herrscht heute weitgehend Sprachlosigkeit. Die diplomatischen Beziehungen hat die Ukraine nach dem russischen Überfall abgebrochen, auch private und freundschaftliche Beziehungen sind zwischen den Menschen beider Länder kaum noch möglich. Gespräche mit Freunden und Verwandten in Russland empfinden die meisten Ukrainer inzwischen als sinnlos: Zu "zombiesiert" sind die einstigen Nächsten, zu oft verdrehen sie Tatsachen oder wollen nicht wahrhaben, welche Verbrechen ihr Land in der Ukraine verübt. Nicht über Politik zu reden, nur über Bäume oder über das Wetter, das funktioniert auch nicht. Schon die Gesundheit ist ein gefährliches Thema, wenn Russen Ukrainer töten wollen, weil es ihnen befohlen wurde.

In der Anonymität des Internets aber, auf der Video-Plattform Chatroulette, diskutieren Ukrainer und Russen weiterhin miteinander über alle heiklen Fragen. Beim Chatroulette meldet man sich mit Kamera und Mikrofon in einem virtuellen Raum an, dann entscheidet der Zufall oder der Algorithmus, mit wem man spricht. Wobei die Teilnehmer wissen (oder wissen sollten), dass die Gespräche vom Gegenüber womöglich live gestreamt und in sozialen Netzwerken wie Youtube gesendet werden.

Bereits während der ersten acht Kriegsjahre seit 2014 war diese Art des Streitgesprächs zwischen Ukrainern und Russen beliebt, doch seit dem Beginn der russischen Invasion sind sie populärer und auch lehrreicher denn je. Denn wohl nirgendwo sonst können die Einstellungen der Russen zum Angriff auf das Nachbarland Ukraine so genau studiert werden wie beim Chatroulette. Die Teilnehmer reden in einer ihnen vertrauten Umgebung, meist in ihrer Wohnung, manchmal am Arbeitsplatz oder im Auto. Das sorgt oft für eine entspannte Atmosphäre. Die Gespräche können auch jederzeit abgebrochen werden.

"Wieso sollen wir nicht lachen?"

Einige Russen demonstrieren hier, dass ihnen eine moralische Instanz, die man Gewissen nennt, fehlt. Auf Youtube etwa gibt es ein Video, das zwei etwa achtzehnjährige Russinnen zeigt, die es lustig finden, dass ihr Vater in der Ukraine Menschen tötet. Sie sitzen bestens gelaunt in ihrer Küche und plaudern mit gleichaltrigen Ukrainern über ihre Hobbys. Welche Haltung sie zum Krieg haben, diese Frage finden sie "nicht korrekt", zu intim.

"Nicht korrekt wäre die Frage nach der Farbe eurer Unterwäsche", antwortet ihnen der ukrainische Blogger Andryj Popik. Er arbeitet als Informatik-Lehrer in der westukrainischen Stadt Chmelnyzkyj und möchte Menschen in Russland helfen, die Absurdität des Krieges zu verstehen. Er wäre schon zufrieden, wenn er pro Tag nur einen Menschen retten könnte. 46 Millionen Mal wurden seine Videos bei Youtube seit dem Start seines Kanals im August 2015 aufgerufen.

Doch die beiden Russinnen verstehen nicht, warum sie nicht darüber lachen sollen, dass ihr Vater in der Ukraine womöglich auch Verwandte tötet. Sie tun so, als würden sie weinen. "Wieso können wir nicht darüber lachen, müssen wir weinen? Was können wir denn machen?"

"Beispielsweise nicht darüber lachen", schlägt der Ukrainer ihnen vor. "Vielleicht solltet ihr euch dafür interessieren, dass eurer Land Raketen auf mein Land schießt und friedliche Menschen tötet? Euer Vater tötet in der Ukraine Menschen, und ihr plaudert und kichert hier fröhlich mit Ukrainern?"

Eine der beiden Frauen studiert Medizin, die andere Finanzwesen. Dass eine Ärztin Menschen retten sollte, wissen die beiden auch. Aber eine Ärztin sei ja "nicht verpflichtet in die Ukraine zu laufen und dort mit ausgestreckten Armen zu rufen 'Ich lerne Ärztin!'". Und wenn in der Ukraine ein Mädchen in ihrem Alter von einer Rakete aus Russland getötet werde, dann sei dafür das Schicksal verantwortlich.

"Heute habe ich den Teufel gesehen"

Am Krieg seien beide Seiten schuld, meinen sie, wie bei jedem Streit. Popik fasst sich an den Kopf und stöhnt. Ukrainer beschießen Ukrainer, das hat er schon oft gehört. "Aber wenn jemand kommt und dir die Nase bricht? Bist du dann selbst schuld?" Sie verstehen seine Frage nicht. "Wieso soll man den Krieg mit einer Nase vergleichen?" Haha, witzig, sie lachen wieder. Sie seien ja eigentlich noch fast Kinder, sagen sie. Sie leben in Russland und deshalb sind sie für Russland. "Bald wird die Ukraine sowieso uns gehören", prophezeien die beiden angeblich unpolitischen Mädchen. "Und die Ukrainer werden russische Pässe haben und dann auch unter einem friedlichen Himmel leben." Dafür kämpft ihr Papa schon seit mehr als einem Jahr. Überhaupt sei ihr Papa ein wunderbarer Vater, er kämpfe auch nicht nur wegen der guten Bezahlung, und er sei auch nicht aus dem Gefängnis rekrutiert worden, erklären sie.

Andrij Popik ist offensichtlich erschrocken. "Ich glaube nicht an Gott, aber es scheint mir, heute habe ich den Teufel gesehen." Die beiden Frauen stimmen ihm sogar zu und nennen sich selbst "Bastard". Popik meint, man porträtiere den Teufel gewöhnlich als furchterregende Erscheinung mit einem Buckel. Aber das sei falsch, er trete offenbar als hübsches Mädchen auf, das lieblich lächele. Dann ahmt er die Stimmen der beiden Russinnen nach. "Hihi, mein Papa ist losgegangen, um euch zu töten."

"Ja!", rufen die beiden im Chor und lachen. Sie freuen sich, durchschaut worden zu sein.

Popik nennt sie, wieder ihre Stimmen nachahmend, "Nazistinnen", und auch das nehmen sie als Kompliment. Erst als er ihr Lächeln höllisch nennt, schalten sie ab, und ihre Gesichter verschwinden vom Bildschirm. "Wir haben die Quintessenz des Nazismus gesehen", kommentiert der Ukrainer. Allein dieses Video haben in den vergangenen zwei Monaten mehr als 600.000 Menschen gesehen.

"Ich bin selbst eigentlich auch Ukrainerin"

Mit 40 Millionen Aufrufen in zweieinhalb Jahren allein bei YouTube gehört auch Sergej Kraianyn zu den erfolgreichsten ukrainischen Polit-Bloggern. Viele bewundern ihn für seine Geduld, mit der er auch den absurdesten Meinungen ruhig zuhört. In dem Video "Der Mann ging Verwandte töten" spricht er mit einer jungen Russin, die über den Krieg nicht lacht, sondern weint. Denn so viele Russen seien schon in der Ukraine gestorben und auch ihr Mann kämpfe dort, so erzählt sie. Sie versteht aber nicht, warum ihre ukrainischen Verwandten nicht mehr mit ihr sprechen. "Meine Wurzeln sind von dort, ich bin selbst eigentlich von dort." Ihr Mann ist Vertragssoldat, also ein Freiwilliger.

Kraianyn empfiehlt ihr, ihren Verwandten zu erklären, dass ihr Mann auch sie töten müsse, denn das sei sein Dienst. Die Russin ist etwas verlegen. "Ja, mein Guter, machen Sie sich ruhig über mich lustig." Sie selbst habe ja nichts gemacht. Kraianyn kann es nicht fassen. "Sie erklären, Ihr Mann hat einen Vertrag, er geht Verwandte töten. Verstehen Sie das oder verstehen Sie das nicht?" Nein, das versteht sie nicht. "Sie üben psychischen Druck auf mich aus", sagt sie und beendet das Gespräch nach acht Minuten.

Die Stars der Video-Blogger-Szene wie Kraianyn und Popik sind in der Ukraine landesweit bekannt. Das gilt auch für Andrej Karpow mit seiner "Wata Show". Die Sendung war so populär, dass sie 2018 vom Fernsehsender "Pryamiy" ins Programm genommen und im Studio vor Publikum gespielt wurde. Allerdings bestanden die Manager des Fernsehsenders darauf, dass die Aufnahmen etwas zeitversetzt gesendet wurden, damit die vielen obszönen Flüche der Russen überpiept werden konnten.

"Idioten!"

Der in Russland wohl meistgehasste ukrainische Blogger dürfte jedoch Ihor Kirylenko sein, ein ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee. Kirylenko kommt aus Odessa, wo er auch einmal für das Bürgermeisteramt kandidierte. Seinen Youtube-Kanal mit 270.000 Abonnenten nennt er provozierend "Odesskaja Junta", mit ihm will er "die Kreml-Propaganda bekämpfen".

"Was ich mache, ist keine Unterhaltung", erklärte er im Interview mit der Nachrichtenseite Ukrainska Prawda. "Ich betrachte dies als eine ernsthafte Mission. Während im Donbass der Stellungskrieg weitergeht, habe ich mich ganz bewusst dem Informationskrieg angeschlossen."

Früher saß er beim Chatroulette in seiner Wohnstube in Odessa; doch in letzter Zeit spricht er meist vor einem schwarzen Hintergrund. Beim ersten Anblick wirkt er - Jahrgang 1959 - wie ein gemütlicher weißhaariger Großvater. Aber dank seiner umfassenden historischen Bildung und seinen Erfahrungen als Militäringenieur fällt es ihm leicht, Propagandamärchen zu widerlegen. Wenn seine Gäste beispielsweise erzählen, dass Katharina die Zweite vor 230 Jahren seine Heimatstadt Odessa gegründet habe, verweist er darauf, dass sein Haus 300 Jahre alt ist und demnach vor der Geburt der Zarin gebaut wurde. Erzählt ihm jemand, die Ukraine habe nie existiert, Lenin habe sie erfunden, wie das auch Russlands Präsident Putin behauptet, so antwortet Kirylenko: "Idioten! Sogar im Russischen Reich wurde 1824 das 'Ukrainische Journal' in Charkiw herausgegeben."

Bei Chatrouelette bekommt man oft gruslige Einblicke in die angeblich so gefühlvolle "russische Seele". Ein Mann aus dem sibirischen Barnaul behauptet beispielsweise im Gespräch mit der ukrainischen Bloggerin Vira Stream, die Russen zerstörten in der Ukraine keine ukrainischen Gebäude, sondern sowjetische. Und da Russland der Rechtsnachfolger der Sowjetunion sei, könne es "sein" Eigentum in der Ukraine zerstören.

Bei aller Konfrontation ist Chatroulette letztlich auch ein soziales Laboratorium, ein Testgebiet für die Chancen der Diplomatie. Denn Politiker können kaum Übereinkünfte erzielen, wenn die Menschen beider Länder zu allen wichtigen Fragen gegensätzliche Ansichten vertreten, einander verachten oder sogar hassen. Was Russinnen und Russen auf Chatroulette von sich geben, ist natürlich immer nur eine Momentaufnahme. Doch die im Westen oft gehörte Behauptung, man könne nicht wissen, was die Russen wirklich denken, weil sie sich in ihrem Land ja nicht frei äußern können, wirkt in Kenntnis dieser Gespräche zu einfach. Man muss nur Russisch können und den Menschen aus Russland zuhören, dann versteht man ganz gut, warum so viele von ihnen den Krieg unterstützen. Es ist eben nicht bloß Putins Krieg.