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Lech Wałęsa wird 80 - Der Elektriker der Revolution

Mit seinem Schnauzbart und seinem verschmitzten Lächeln wurde er zur Jahrhundert-Ikone. Er war das Gesicht der Revolution von 1989. Der Friedlichen Revolution, die den Kommunismus besiegte. Die Mauern fielen – zuerst in Polen, dann in ganz Osteuropa.

Inzwischen ist es still geworden um Lech Wałęsa, der heute, am 29. September, seinen 80. Geburtstag feiert. Was ist aus ihm geworden?

Um seine Bedeutung zu ermessen, eine Rückblende zum 31. Juli 1980. Es ist abends. Lech Wałęsa, ein arbeitsloser Elektriker, geht mit gebücktem Schritt durch Stogi, das Arme-Leute-Viertel der Hafenstadt Danzig. Er öffnet die Tür zu seiner Zwei-Zimmer-Wohnung und hört seine Frau schwer atmen. Danuta erwartet ihr sechstes Kind. Sind es schon die Wehen?

Dann hämmert es an der Tür. „Machen Sie auf! Sie sind verhaftet!“ Die gefürchtete polnische Miliz! Wałęsa soll Flugblätter eines verbotenen Gewerkschaftsbundes verteilt haben. Danuta schreit vor Verzweiflung, die Kinder weinen, „Los, abführen!“, befiehlt der Kommandant.

Familie Wałęsa im September 1980: Lech mit Ehefrau Danuta („Danka“) und ihren damals noch sechs Kindern (zwei Mädchen wurden 1982 und 1985 geboren)

Familie Wałęsa im September 1980: Lech mit Ehefrau Danuta („Danka“) und ihren damals noch sechs Kindern (zwei Mädchen wurden 1982 und 1985 geboren)

Foto: Getty Images

In diesem Moment tut Wałęsa etwas für ihn Typisches. Etwas, das ihm Jahre später immer wieder gelingen und nicht nur Freunde einbringen wird: Er zügelt seine Reaktion. Und er verhandelt mit Augenmaß. Um nicht vor seiner Frau und den Kindern aus der Wohnung gezerrt zu werden, einigt er sich mit der Miliz auf einen Kompromiss. „Ich gehe freiwillig mit euch“, sagt er, „aber gebt mir die Chance, meine Familie zu beruhigen.“

Wałęsa organisiert sogar noch einen Nachbarn, der in seiner Abwesenheit ein Auge auf seine Familie haben soll und geht mit den grimmig schauenden Wachleuten mit. Als er 48 Stunden später wieder freikommt, ist er wütend. Nicht wegen der Haft. Das kennt er schon. Als sogenannter „Oppositioneller“ war dies bereits seine dritte.

Was ihn wirklich wütend macht: dass er die Geburt seiner Tochter Anna verpasst hat.

Wałęsa lässt sein Leben nie von Wut bestimmen

Wenige Tage später, als im August 1980 eine Streikwelle durch Polen geht und Unruhen herrschen, ist es Wałęsa, der als Arbeitervertreter der Danziger Lenin-Werft einen Kompromiss mit der Regierung aushandelt. Die bis dahin illegale Solidarność wird offiziell erlaubt – die erste nicht kommunistische Arbeitervertretung im Ostblock überhaupt!

Im Gegenzug wirkt Wałęsa auf die demonstrierenden Arbeiter ein, die Streiks zu beenden. Die wollten das kommunistische System zum Einsturz bringen, Wałęsa aber sagt: Man kann keine Mauer niederreißen, indem man mit dem Kopf gegen sie anrennt. Man muss sie Stein für Stein abtragen.

Kaum auszumalen, was geschehen wäre, wenn der sanfte Revolutionär Wałęsa damals nicht so besonnen gehandelt hätte: An der Grenze zu Polen standen bereits die Panzer der Roten Armee, im Kreml herrschte der Hardliner Leonid Breschnew. Er hätte, wie damals in Prag und Budapest, befehlen können, die Unruhen niederzuwalzen.

Das Massaker bleibt aus – und Wałęsa behält Recht

Der Freiheitsdrang der Polen – und der Ungarn, der Tschechen, der Rumänen und der DDR-Bürger – ist geweckt. Stein für Stein wird der Kommunismus brüchiger. Und Wałęsa zum Weltstar. Der berühmte Historiker Timothy Garton Ash, der in jenen geschichtsträchtigen Monaten im Jahr 1980 nach Danzig kommt, um über den berühmten Rebellen zu berichten, beschreibt einen „komischen Mann mit schlaff hängendem Schnauzbart, in schlecht sitzenden Hosen“.

Ein Jahr später prangt dieser komische Mann auf dem Cover des „Time“-Magazins. Zwei Jahre später erhält er den Friedensnobelpreis. Seine Frau Danuta nimmt ihn in Oslo entgegen – weil Wałęsa Angst hat, nie mehr nach Polen zurückkehren zu dürfen. Gerade erst hat er wieder elf Monate in Haft verbracht.

Wałęsa (2005 in New York) vor dem Titelbild des „Time“-Magazins, das ihn 1982 zum „Mann des Jahres“ machte

Wałęsa (2005 in New York) vor dem Titelbild des „Time“-Magazins, das ihn 1982 zum „Mann des Jahres“ machte

Foto: AFP via Getty Images

Als 1988 abermals eine Streikwelle durch Polen geht, ist die Situation eine andere. In Moskau regiert inzwischen der Reformer Michail Gorbatschow, auch in Prag, in Budapest, in Bukarest und Ost-Berlin ist das Fundament des Systems in Bröckeln geraten, Steinchen für Steinchen.

In Polen herrschen wieder Unruhen im ganzen Land, doch diesmal geht es um mehr. Nicht mehr um Reformen, sondern um Revolution. Wieder ist es Wałęsa, der ruhig Blut behält und – zur Enttäuschung alter Weggefährten – zur Mäßigung aufruft: „Wir müssen kompromissbereit sein und Reformen auf friedliche Art erreichen.“

Der erste Runde Tisch stand in Polen

Wałęsa erreicht damals etwas, das in den Diktaturen des Ostblocks bis dahin undenkbar gewesen ist: Die kommunistische Regierung unter General Jaruzelski stimmt einem sogenannten Runden Tisch zu.

An diesem Tisch soll unter Einbeziehung der bis dahin illegalen Opposition die Zukunft des Landes beraten werden. Zähe Verhandlungen führen dazu, dass das Regime sogar halbfreie Wahlen zulässt: Rund zwei Drittel der Sitze im Parlament sollen den kommunistischen Abgeordneten vorbehalten sein, der Rest sowie alle Sitze im Senat (Höhere Kammer) dürfen – im Osten eine Sensation damals – frei gewählt werden.

Das Zeichen des Sieges über den Kommunismus: Mit diesem Logo zogen Wałęsa und seine Gewerkschaft Solidarność („Solidarität“) 1980 in den Kampf

Das Zeichen des Sieges über den Kommunismus: Mit diesem Logo zogen Wałęsa und seine Gewerkschaft Solidarność („Solidarität“) 1980 in den Kampf

Foto: picture-alliance / dpa

Solidarność, inzwischen nicht mehr nur Gewerkschaft, sondern Volksbewegung, gewinnt bei den Wahlen im Juni 1989 sämtliche frei wählbaren Sitze. Jaruzelski, der noch 1980 das Kriegsrecht über sein Land verhängt hat, um jeden Widerstand zu brechen, ist am Ende. Er räumte ein: „Diese Niederlage ist total.“

Statt aber den Triumph auszukosten, lädt Wałęsa seinen Weggefährten, den Journalisten Tadeusz Mazowiecki ein, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen – wissend, dass dieser liberale Katholik sogar Reformkommunisten in sein Kabinett aufnehmen würde, um die Verlierer nicht zu demütigen. Wałęsa bleibt im Hintergrund.

Ein Schlüsselmoment der Weltgeschichte. Die mutigen Polen haben als erstes Land im Ostblock einen Nicht-Kommunisten an die Spitze der Regierung gebracht.

Das Resultat ist eine Kettenreaktion in ganz Osteuropa.

Der Kollaps des Kommunismus ist nicht mehr aufzuhalten. Die Regierung in Prag lässt Demonstrationen zu, die Regierung in Budapest die Grenzen zum Westen öffnen, in Ost-Berlin wird Honecker von seinen Parteigenossen gestürzt und auch hier gibt es plötzlich Runde Tische.

Wann fällt die Mauer? Wałęsa mit Kanzler Helmut Kohl am 9. November 1989 – dem Tag des Mauerfalls

Wann fällt die Mauer? Wałęsa mit Kanzler Helmut Kohl am 9. November 1989 – dem Tag des Mauerfalls

Foto: picture-alliance / dpa

Am 9. November reist Bundeskanzler Helmut Kohl von Bonn nach Warschau, um dem neuen Ministerpräsidenten Mazowiecki Hilfe beim Aufbau der jungen Demokratie zuzusagen. Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher treffen auch auf Wałęsa, der ihnen, so berichtet er später, eine gewagte Prophezeiung macht: „Bald wird die Berliner Mauer fallen, bald wird die Sowjetunion zusammenbrechen. Seid ihr als die größte Kraft in Europa darauf vorbereitet?“ Die Antwort sei gewesen: „Lieber Herr Wałęsa, bis es so weit ist, wachsen auf unseren Gräbern große Bäume.“

Noch am selben Abend musste Kohl seine Polen-Reise abbrechen. Die Mauer war gefallen.

Die Weltgeschichte kennt überraschende Wendungen. Das muss Wałęsa am eigenen Leib erfahren.

1990 wird er mit fast 75 Prozent erster frei gewählter Präsident Polens, ein Volksheld. Fünf Jahre später: die Abwahl. Er ist, so sagen selbst seine Anhänger, überfordert mit dem Amt. Er spricht wie ein Elektriker, nicht wie ein Staatsmann, wird sogar zum Objekt des Spotts. Im Jahr 2000 tritt er noch einmal an. Und erhält nur ein Prozent der Stimmen.

Dezember 1990: Vereidigung als erster frei gewählter Präsident Polens

Dezember 1990: die Vereidigung Wałęsas als Polens erster frei gewählter Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg

Foto: picture alliance / PAP

In der polnischen Politik von heute ist er nicht mehr gefragt. Für die Linken ist der knorrige, katholische Mann mit seinen altmodischen Ansichten ein Relikt aus überholten Zeiten. Die Rechtsnationalen mögen ihn erst recht nicht. Weil er deren Anti-EU-Kurs nicht mitträgt und keinen Spaß an deutschfeindlichen Sprüchen hat. 2006 tritt er sogar aus der Solidarność aus, weil er deren Zusammenarbeit mit der rechtsnationalen Regierungspartei PiS ablehnt.

Zwei Polen, die Weltgeschichte schrieben: Wałęsa empfängt das Abendmahl von Papst Johannes Paul II. (1987 bei einer Messe in Danzig)

Zwei Polen, die Weltgeschichte schrieben: Wałęsa empfängt die Heilige Kommunion von Papst Johannes Paul II. (1987 bei einer Messe in Danzig)

Foto: picture alliance / AP

Gemessen an seiner historischen Bedeutung wird Wałęsa seinen runden Geburtstag heute wohl recht still begehen. Ehefrau Danuta (74) wird an seiner Seite sein – und alle seine acht Kinder. Aber es wird einen Festgottesdienst geben. Mehr will er auch nicht.

Erst wenn er – in hoffentlich ferner Zukunft – gestorben ist, wird in Krakau vielleicht die berühmte Sigismund-Glocke zum Einsatz kommen, die nur bei nationalen Ereignissen größter Bedeutung geläutet wird – am Ende des 2. Weltkriegs, beim Tode von Johannes Paul II.

Nach dem polnischen Papst ist Wałęsa der weltweit berühmteste Pole. Ein wenig mehr Anerkennung von seinem Land würde dem Elektriker, der zur Jahrhundertfigur wurde, noch zu Lebzeiten zustehen.