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Experte zur Migrationsdebatte: "Flüchtlinge lassen sich nicht von Sachleistungen abschrecken"

Experte zur Migrationsdebatte "Flüchtlinge lassen sich nicht von Sachleistungen abschrecken"

Der Migrationsexperte Jochen Oltmer kritisiert die aktuelle Debatte über Grenzkontrollen, Sachleistungen und Flüchtlingsdeals als verlogen. "Jede einzelne Maßnahme hat quantitativ wenig Bedeutung", sagt er im Interview mit ntv.de. "Es ist einfach nicht realistisch, zu erwarten oder zu suggerieren, dass es mit Einzelmaßnahmen gelingt, die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten deutlich zu reduzieren." Seit Jahrzehnten werde das Thema Migration als jeweils aktuelles Krisenphänomen verstanden. "Dabei müssten wir akzeptieren, dass Migration ein Dauerphänomen ist, das uns noch über Jahrzehnte begleiten wird."

Jochen Oltmer ist Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
Jochen Oltmer ist Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.

Jochen Oltmer ist Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.

(Foto: picture alliance / dpa)

ntv.de: Ich würde mit Ihnen gern die unterschiedlichen Vorschläge durchgehen, die aktuell in der Debatte zur Migrationspolitik gemacht werden. Fangen wir mit Grenzkontrollen an. Sind die geeignet, die Zahl der Migranten, die nach Deutschland kommen, zu reduzieren?

Jochen Oltmer: Diese Diskussion hat ja eine ganz eigene Dynamik. Zunächst hat die Union stationäre Grenzkontrollen gefordert, die Bundesinnenministerin hat sie abgelehnt. Mittlerweile scheint sie geneigt zu sein, solche Grenzkontrollen zuzulassen. Aber sie hat auch deutlich gemacht, dass es schon Grenzkontrollen gibt, allerdings eben keine stationären, sondern solche hinter der Grenze im Sinne einer Schleierfahndung. Generell würde ich wie die Innenministerin argumentieren: Stationäre Grenzkontrollen bringen nicht viel.

Warum nicht?

An den deutschen Grenzen gibt es in der Regel keine Grenzzäune, deshalb ist es einfach, stationäre Kontrollen zu umgehen. Wenn es also darum geht, die Zahl der ankommenden Migranten zu senken, dann muss man zu der Auffassung gelangen: Das ist kein Faktor, der von Belang ist. Und es gibt einen rechtlichen Einwand: Deutschland ist Teil des Schengen-Raums, stationäre Grenzkontrollen sind nur in Ausnahmefällen und nur befristet erlaubt.

Die Befristung kann immer wieder verlängert werden, wie an der Grenze zu Österreich.

Im Sinne des Schengener Abkommens ist das nicht. Eine ständige Verlängerung birgt immer die Gefahr, dass Schengener Abkommen, das ja Grundlage für die Freizügigkeit aller Unionsbürger ist, auszuhöhlen.

An der Grenze zu Österreich gab es im ersten Halbjahr 4489 Zurückweisungen. Ist das nicht ein Hinweis, dass solche Kontrollen etwas bringen?

Hauptgrund für Zurückweisungen waren das Fehlen eines gültigen Reisedokuments oder Visums. Im Blick auf Fluchtbewegungen sagen solche Zahlen wenig aus.

Der sächsische Innenminister Armin Schuster sagt, eigentlich müsse Deutschland niemanden aus einem sicheren Drittland aufnehmen. Wäre es rein rechtlich möglich, dass die Bundesrepublik die Grenzen dicht macht?

Nein, das wäre es nicht. In dem Moment, in dem ein Mensch an der Grenze um Schutz nachsucht, muss ein Asylverfahren angestrengt werden. Dann muss geklärt werden: Woher kommt dieser Mensch? Welche Wege ist er gegangen? Hat er Anspruch auf Schutz? In jedem Fall besteht die Notwendigkeit, eine Prüfung vorzunehmen. Aber selbst, wenn man der Auffassung wäre, dass es rechtlich möglich ist, die Grenzen zu schließen - was würde das bedeuten? Deutschland geriete sofort in Konflikte mit seinen Nachbarländern. Es käme zu Kettenzurückweisungen: Deutschland würde nach Österreich zurückweisen, Österreich nach Ungarn, und so weiter. Am Ende steht immer die Frage: Wie steht es um die Außengrenzen der EU?

Bevor wir dazu kommen, kurz zur Schleierfahndung. Was ist der Sinn von Schleierfahndung? Geht es darum, die Zahl der Asylanträge zu drücken oder geht es darum, Kriminelle zu finden?

Genau das ist bei der Schleierfahndung und auch bei stationären Grenzkontrollen das wesentliche Element: Es geht darum, die Grenze zu kontrollieren, es geht um Zollvergehen, es geht um überladene LKWs und ähnliches mehr. Ein Element ist bei solchen Kontrollen natürlich auch die Frage, ob die Papiere eines Menschen in Ordnung sind oder ob hier möglicherweise Menschen von jemandem transportiert werden, der Schleuser oder Schlepper genannt wird.

Warum "genannt wird"?

Es ist schwierig, Menschen, die Migranten transportieren, als Schlepper zu identifizieren. Eine Frage ist entscheidend: Hat der Fahrer eines Fahrzeugs, in dem mehrere Menschen transportiert wurden, Geld dafür bekommen? Das nachzuweisen ist schwer.

Und was bringt es, Deutschland als Zielland weniger attraktiv zu machen, etwa durch weniger finanzielle Unterstützung für Asylbewerber, wie die Union das fordert? Oder durch eine verschärfte Abschiebehaft, wie sie gerade in Italien beschlossen wurde?

Das ist alles schon ausprobiert worden, teilweise auch längst in Kraft. All diese Debatten werden seit den 1970er Jahren immer wieder geführt. Lange galt beispielsweise ein vollständiges Arbeitsverbot für Asylsuchende. Es wurde gelockert, weil es volkswirtschaftlich wenig sinnvoll ist, Hunderttausende Menschen davon abzuhalten, sich eine Beschäftigung zu suchen. Dabei geholfen, die Bundesrepublik für Migranten unattraktiv zu machen, hat das Arbeitsverbot nicht. Oder die Frage von Sachleistungen anstelle von Geld: Auch das ist längst ausprobiert worden und es wird in einigen Bundesländern bis heute gemacht. Eine Wirkung dieser Maßnahme lässt sich nicht ausmachen. Das ist auch leicht nachvollziehbar: Der Hauptgrund, warum sich Menschen auf den Weg nach Deutschland machen, ist die Situation in ihren Herkunftsländern. Die meisten Asylanträge gibt es von Menschen aus Syrien und Afghanistan. Die lassen sich nicht von Sachleistungen abschrecken.

Seit Jahrzehnten werden auch verstärkte Abschiebungen gefordert. Ließe sich damit eine relevante Entlastung für die Kommunen schaffen?

Sie sagen es: Mehr Abschiebungen werden seit Jahrzehnten gefordert, und seit Jahrzehnten gibt es diese Abschiebungen auch. Aber Abschiebungen sind mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Diejenigen, die abgeschoben werden können, die werden abgeschoben. Vor Corona waren es in der Regel zwischen 20.000 und 25.000 Abschiebungen pro Jahr. Sehr viele, die keinen Schutztitel bekommen, sind trotzdem vor einer Abschiebung geschützt - weil ihre Identität unklar ist und damit nicht geklärt ist, wohin sie abgeschoben werden können. Oder weil ihnen im Herkunftsland eine Verfolgung droht oder sie eine Ausbildung begonnen haben. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die vor Abschiebung schützen. Und natürlich gibt es auch schon lange Diskussionen darüber, auf welche Art und Weise der Nachweis der Identität erleichtert werden kann. Aber auch das ist ein schwer zu lösendes Problem.

Was würde es bringen, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären?

Wenig, weil die wenigsten Menschen, die in der Bundesrepublik einen Asylantrag stellen, Staatsangehörige dieser Staaten sind. In Deutschland gab es 2022 beispielsweise 1271 Asylanträge aus Tunesien und 888 aus Libyen. Interessant sind die Maghreb-Staaten nur in ihrer Bedeutung als Durchgangsländer.

Deshalb versucht die EU, entsprechende Abkommen abzuschließen.

Länder wie Tunesien fordern sehr viel Geld und politische Unterstützung dafür, den Job als Torwächter der Europäischen Union zu übernehmen. Denn sie sollen ja nicht nur Menschen daran hindern, die Boote nach Europa zu besteigen. Sie sollen die Migranten auch wieder aufnehmen, wenn diese es doch nach Europa geschafft haben. Das ist für die nordafrikanischen Staaten mit hohen innenpolitischen Kosten verbunden. Damit handeln sie sich nur Ärger ein.

CDU-Chef Friedrich Merz hat neulich auf den Asylkompromiss von 1993 verwiesen. Damals sind die Asylbewerberzahlen wirklich deutlich gesunken.

Zunächst einmal ist das deutsche Asylrecht für die Frage der Aufnahme von Menschen belanglos, denn fast alle Schutzsuchenden werden nach den Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU aufgenommen, nicht auf der Basis des deutschen Asylrechts. Insofern ist das eine Scheindebatte.

Was ist damals anders gelaufen?

Seit Ende der 1980er Jahre ging die Zahl der Schutzsuchenden deutlich nach oben. Ein Grund dafür war die Öffnung des Eisernen Vorhangs. In einer solchen Situation dauert es eine Weile, bis ein neues Grenzkontrollsystem etabliert ist. Das ist bis Mitte der 1990er Jahre geschehen, deshalb gingen die Zahlen dann wieder runter. Ein Grund war auch, dass die Hunderttausenden von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder zurückgeführt wurden, teils mit sehr restriktiven Maßnahmen.

Was ist von der aktuell diskutierten europäischen Asylreform zu erwarten?

Hier muss man abwarten, was am Ende wirklich beschlossen wird.

Die Asylanträge von Migranten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent sollen an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden.

Aber es gibt viele Unklarheiten. Was ist mit den Lagern an den Außengrenzen, in denen die Migranten bleiben sollen? Vorgesehen ist, dort mit der sogenannten Fiktion der Nichteinreise zu operieren: An den Außengrenzen sollen bestimmte Territorien ausgewiesen werden, die so behandelt werden sollen, als gehörten sie nicht zur EU - ähnlich wie die internationalen Zonen von Flughäfen. Ist das rechtlich und praktisch wirklich umsetzbar? Es steht zu erwarten, dass diese Einrichtungen schnell überfüllt sein werden. Und wie sollen die Rückführungen organisiert werden? Das Problem mit den Abschiebungen bestünde ja nach wie vor.

Gibt es denn keine Maßnahme, die dazu führt, dass die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten signifikant sinkt?

Jede einzelne Maßnahme hat quantitativ wenig Bedeutung. Zudem ist vieles, was diskutiert wird, rechtlich problematisch. Zum Beispiel die Obergrenze, die jetzt Integrationsgrenze heißt. Was soll die bringen? Das ist ja schon mehrfach gesagt worden: Wenn wir eine Obergrenze von 200.000 Asylbewerbern festlegen, was passiert dann mit der 200.001. Person, die in Deutschland um Schutz bittet?

Sie haben eingangs gesagt, die migrationspolitische Diskussion habe eine eigene Dynamik. Ist da vielleicht auch Verlogenheit mit im Spiel?

Ja. Diejenigen, die sich an dieser Debatte beteiligen, sind ja nicht erst seit zwei Jahren im Geschäft. Sie wissen, dass die Maßnahmen, die sie fordern, seit Jahren und Jahrzehnten diskutiert werden. Es ist einfach nicht realistisch, zu erwarten oder zu suggerieren, dass es mit Einzelmaßnahmen gelingt, die Zahl der nach Deutschland kommenden Migranten deutlich zu reduzieren. Wir müssen wegkommen von einer Perspektive, die immer nur von Sondergipfel zu Sondergipfel denkt. Seit Jahrzehnten wird das Thema Migration als jeweils aktuelles Krisenphänomen verstanden. Dabei müssten wir akzeptieren, dass Migration ein Dauerphänomen ist, das uns noch über Jahrzehnte begleiten wird.

Mit Jochen Oltmer sprach Hubertus Volmer