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Auf dem Rückweg vom Mord an Ayleen chattete Jan Heiko P. ein anderes Mädchen an

Eine Stunde lang muss sich der Angeklagte die Beschreibungen der Abgründe seiner Persönlichkeit anhören. Es sind die immer gleichen Attribute, die Richterin Regine Enders-Kunze vom Pult herunterprasseln lässt: Er sei empathielos. Verantwortungslos. Bedürfnisorientiert. Abgebrüht. Emotionslos. Außergewöhnlich sei der Angeklagte nur „im negativsten Sinne“ – das unterscheide ihn „deutlich von fast allen Tätern, die sich vor Schwurgerichten zu verantworten haben“, so die Richterin.

Jan Heiko P., der ein rotes Hemd trägt, einen Bürstenschnitt hat und sich in der Untersuchungshaft einen Vollbart wachsen ließ, hört sich die Urteilsbegründung im Landgericht Gießen regungslos an. Er hat bereits seinem Gutachter, dem Heidelberger Psychiater Hartmut Pleines, bei der Untersuchung vor wenigen Monaten mitgeteilt, dass es ihm in der zu erwartenden Haft vor allem auf zwei Dinge ankomme: den Konsum von Cola und der TV-Serie „Alarm für Cobra 11“.

Insofern spricht einiges dafür, dass ihm der letzte Verhandlungstag am vergangenen Donnerstag weitgehend egal war. Dabei ist das Leben, das er kannte, vorbei: Die Kammer des Schwurgerichts verhängte nicht nur die lebenslange Haftstrafe wegen Mordes, sondern stellte auch die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete die Sicherungsverwahrung an. Dies ist die höchstmögliche Strafe, die das Gesetz vorsieht. Jan Heiko P. wird aller Voraussicht nach nie mehr frei sein.

Richterin Regine Enders-Kunze (Archivfoto)

Richterin Regine Enders-Kunze (Archivfoto)

Quelle: picture alliance/Andreas Arnold/dpa

Enders-Kunze sagt, dass der Täter bereits vor der Verhandlung feststand: Der Angeklagte hatte bei der Polizei gestanden, die 14-jährige Ayleen A. getötet zu haben. Die Tat war der Schlusspunkt einer Chat-Bekanntschaft, die drei Monate dauerte und schließlich das Mädchen aus Gottenheim bei Freiburg das Leben kostete.

Warum und wie P. das tat, kann die Kammer nicht im Einzelnen aufklären. Aber es geschah aus einer „ausschließlichen sexuellen Motivation“, so die Richterin. Er wollte unbedingt Sex haben mit Ayleen. „Und weil sie nicht wollte, was er wollte, musste sie sterben“, sagt Enders-Kunze.

1021 Chats mit 33.844 Nachrichten – alle über Sex

Ayleen A. geriet in die Fänge eines Menschen, dessen Biografie schwere Brüche aufweist. Er entwickelte bereits im Grundschulalter alle möglichen Formen von Verhaltensstörungen, war früh sexuell interessiert und aktiv. Als Jan Heiko P. 14 Jahre alt ist, riss er ein elfjähriges Mädchen vom Fahrrad und würgt es mit seinem Hosengummi. Ein Passant bemerkte die Szene und stoppte den Jugendlichen. Danach rauchte Jan Heiko P. in aller Ruhe eine Zigarette zu Ende und vergnügte sich den restlichen Nachmittag im Freibad.

Bei der Polizei gab er später freimütig an, dass er das Mädchen vergewaltigen wollte. Prompt landete er für zehn Jahre in der geschlossenen Psychiatrie. Eine Kindheit, das Jugendalter, Schulbesuch, das Erlernen eines Berufs, Beziehungen zu Freunden und Frauen: normale Erfahrungen, die junge Männer machen und die sie prägen, fehlen ihm. Ein Leben führen: Jan Heiko P. weiß nicht, was das ist und wie das funktioniert.

Wenige Jahre nach seiner Entlassung endete die Führungsaufsicht – diese beinhaltet unter anderem Bewährungsauflagen. Und der nunmehr freie Mann machte da weiter, wo er vor mehr als zehn Jahren aufgehört hatte.

Er sei immer auf der Suche nach Sex gewesen, aber die „reale Erfüllung“ sei schwierig gewesen, so die Richterin. Er näherte sich Mädchen und Frauen an Bahnhöfen und auf Volksfesten, begrapschte und belästigte sie. Und er betrieb „Akquise“ im Internet. Auf seinem sichergestellten Handy fand die Polizei 1021 Chats mit 33.844 Nachrichten. Dazu kamen Nachrichten über das Programm Snapchat, die sich nach einiger Zeit automatisch löschen und nicht wiederherstellen lassen. Alle Unterhaltungen drehten sich um das Thema Sex, ständig übersandte er Penisbilder und forderte Masturbationsvideos oder Nacktfotos von den Frauen.

Dabei setzte er die Chat-Partnerinnen früh unter Druck, versandte Fragebögen, in denen er ihre sexuellen Vorlieben abfragte und behauptete, ein „Sugar-Daddy-Verhältnis“ aufbauen zu wollen, in dem er die Mädchen bezahlen würde.

Am 25. April 2022 geriet er an Ayleen. Die eher schüchtern-zurückhaltende 14-Jährige lebte in dem Dorf Gottenheim, ein Flecken, in dem sich das Leben mit Überraschungen zurückhält. „Sie ist behütet und wächst geborgen auf“, so die Richterin.

Schon in der siebten von 7068 Nachrichten, die er ihr schrieb, fragte Jan Heiko P, ob sie Interesse an einem Sugar-Daddy-Verhältnis habe. In der 16. Nachricht fragte er, ob sie auch Sex mit ihrem „Sugar Daddy“ haben wollte. Er forderte Nacktbilder. Schrieb ihr, dass er sie „ficken“ wolle. Sie antwortete am 28. April, dass sie noch nie Sex gehabt habe. Aber sie schickte ihm Nacktbilder von sich.

Ayleen war nicht die Einzige, der Jan Heiko P. in dieser Zeit schrieb; er führte vier digitale „Beziehungen“. Aber sie ließ sich unter Druck setzen, machte – in gewissem Rahmen – mit. „In dem Szenario, das sie geschaffen haben, sind Sie teuflisch vorgegangen, waren Sie der Teufel“, sagt Richterin Enders-Kunze an den Mörder gerichtet. „Sie haben nur junge Frauen angeschrieben, die noch unerfahren waren.“

Ayleens Versuchen, sich ihm zu entziehen, begegnete der Angeklagte mit Drohungen: Ich tue mir was an, ich tue deiner Familie was an, ich verrate deinem Vater, was du machst, schreibt er ihr. Fotos hatte er ja.

Im Juli 2022 wollte Ayleen das angebliche Sugar-Daddy-Verhältnis beenden. Da setzte er sie maximal unter Druck und schrieb als anonymer „Henker“ Drohnachrichten.

Dann war es so weit: Jan Heiko P. wollte seine Ankündigungen wahr machen und Ayleen besuchen, um Sex mit ihr zu haben.

Die Richterin verliest die Nachricht 6962: „Bist du mittlerweile zu Hause angekommen? Ich fick‘ dich morgen.“

P. fuhr 400 Kilometer von seinem Wohnort bei Gießen nach Gottenheim. Ayleen bekam es mit der Angst zu tun; ihre Mutter erinnerte sich, dass sie mittags aufgeregt und weinerlich gewesen sei. Doch die Tochter offenbarte sich nicht.

„Hast Du das Geld?“, fragte Ayleen Jan Heiko P. „Dann gib es schnell.“ P. forderte sie auf, ins Auto zu steigen.

„Ich will nicht“, schrieb sie um 16.47 Uhr.

„Soll ich deine Eltern informieren, Deinem Vater alles erzählen?“, drohte er ihr.

Sie knickte ein. „Ok, ich komme.“ Dann fuhr sie mit ihm über Stunden erst durch Gottenheim und Umgebung schließlich nach Hessen.

Der Döner-Imbiss in der Hauptstraße in Gottenheim, vor dem Ayleen in das Auto ihres mutmaßlichen späteren Mörders stieg

Der Döner-Imbiss in der Hauptstraße in Gottenheim, vor dem Ayleen in das Auto ihres mutmaßlichen späteren Mörders stieg

Quelle: Per Hinrichs/WELT

Quelle: Infografik WELT

Es müsse offen bleiben, was „der Angeklagte mit ihr veranstaltet“ habe, so die Richterin. „Aber es ist erwiesen, dass Sex sein ursprüngliches Ziel war.“

Jan Heiko P. habe sie getötet und die Leiche an einer unzugänglichen Stele am Teufelssee bei Gießen abgelegt. Die Aussage des Angeklagten, Ayleen habe ihn provoziert, beleidigt und gedemütigt, woraufhin er ausgeflippt sei und sie umgebracht habe, verwarf die Kammer. „Das ist ausgeschlossen. Sie war hier das Opfer, verängstigt, ohne Aussicht auf Hilfe.“

Keine Grenzen, Regeln oder Moral

Das „völlige Ausmaß des Grauens“, so Richterin Enders-Kunze, werde deutlich, wenn man sich ansehe, wie er sich nach der Tat verhalten habe. Nach der Ablage der Leiche fuhr Jan Heiko P. nach Hause, um 5.38 Uhr kam er dort an. Noch auf der Fahrt berechnete er die Route zu Susi M., einer weiteren Chatpartnerin. „Unmittelbar nach der Tötung und Verbringung der Leiche kehrt er in seinen Chatmodus, seinen Akquise-Modus zurück.“ Ayleens Eltern machten sich derweilen Sorgen um ihre Tochter.

Gutachter Pleines drückte es im Laufe des Verfahrens so aus: Ein „Erschrecken über die eigene Handlungsweise war nicht erkennbar gewesen“. Er hat den Angeklagten exploriert und versucht, herauszufinden, was bei Jan Heiko P. vorliegen könnte. Er schließt aus: Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis und Affektstörungen. Die Dissozialität des Probanden reiche in die Sexualität herein, er kenne keine Grenzen, Regeln oder Moral. Er will so handeln, er muss nicht so handeln. Ihm mangelt es an Schuldgefühlen und Empathie. Ihm fehlt jede Verantwortlichkeit.

Pleines diagnostizierte eine Persönlichkeitsfehlentwicklung, Jan Heiko P. sei in einem Umfeld aufgewachsen, das schädigend war. Es habe keine „Bindungspersonen“ gegeben. Es gebe ein ganzes „Bündel von sozial störenden Verhaltensweisen“, aber seine Persönlichkeit werde davon nicht kontaminiert. Er könnte sich anders verhalten – will es aber nicht.

Bei der Polizei fragten sie ihn, was er beim Verstecken der Leiche verspürt habe. Seine Antwort: „Nichts.“

Richterin Enders-Kunze geht auch auf die Familie ein – Ayleens Mutter sitzt im Saal. „Es bleiben viele Fragen offen, das ist bedauerlich“, sagt sie. „Ich hoffe, dass die Ausführungen hier deutlich gemacht haben, dass es Menschen gibt, deren Handeln nicht vorherzusehen und nicht zu verhindern ist.“

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