Switzerland
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Trotz Dauerkrisen: Die Legislatur-Bilanz ist überraschend positiv

Bundesrat Alain Berset, rechts, diskutiert mit Monika Rueegger-Hurschler, SVP-OW, waehrend der Wintersession der Eidgenoessischen Raete, am Mittwoch, 8. Dezember 2021, im Nationalrat in Bern. (KEYSTON ...

Das Symbolbild der Legislaturperiode 2019 bis 2023: Gesundheitsminister Alain Berset und die Obwaldner SVP-Nationalrätin Monika Rüegger mit Masken und Plexiglas.Bild: keystone

Analyse

Nach den Wahlen 2019 war das Parlament jünger, grüner und weiblicher. Vieles schien möglich, doch zwei Mega-Krisen überschatteten die Legislatur. Trotzdem gab es Lichtblicke.

Am Freitag endet die turbulenteste Legislaturperiode von National- und Ständerat seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei hatte sie verheissungsvoll begonnen. Klima- und Frauenstreik hatten bei den Wahlen 2019 zu einem für hiesige Verhältnisse erdrutschartigen Erfolg der Öko-Parteien geführt. Das neue Parlament war so jung, grün und weiblich wie nie zuvor.

Der Anteil der Frauen im Nationalrat stieg von 32 auf 42 Prozent. Einiges schien möglich, doch schon der erste Härtetest ging schief. Der Angriff der Grünen mit Präsidentin Regula Rytz auf den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis floppte. Das lag auch an den Grünen selbst, die unvorbereitet gewirkt und das bürgerliche Machtkartell unterschätzt hatten.

Leonore Porchet, GP-VD, links, und Valentine Python, GP-VD, rechts, lachen am ersten Tag der 51. Legislatur der Eidgenoessischen Raete, am Montag, 2. Dezember 2019 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/An ...

Die Waadtländer Grünen-Nationalrätinnen Leonore Porchet (l.) und Valentine Python am ersten Tag der neuen Legislaturperiode.Bild: KEYSTONE

Dennoch herrschte Optimismus, als sich die Eidgenössischen Räte zur Wintersession 2019 versammelten. Niemand ahnte, dass es für längere Zeit die letzte «normale» bleiben sollte. Es folgten eine Pandemie und ein Angriffskrieg in Europa und damit zwei Ereignisse, mit denen viele nicht (mehr) gerechnet hatten. Das Parlament agierte im Dauerkrisenmodus.

Corona

Eine Pandemie war vom Bund als Risikoszenario identifiziert und sogar geübt worden. Dennoch wirkte die Schweiz völlig unvorbereitet, als sich SARS-CoV-2 im Rekordtempo auf dem Globus ausbreitete. Zur Eskalation kam es mitten in der Frühjahrssession 2020. Sie wurde abgebrochen, und in der Folge verfiel das Parlament in eine Art Schockstarre.

Es folgten zwei (Sonder-)Sessionen in der weitläufigen Bernexpo, ehe National- und Ständerat ins Bundeshaus zurückkehrten und hinter Plexiglas tagten, mit Masken und Zutrittsbeschränkungen. Die Machtfülle des Bundesrats sorgte im Parlament teilweise für Irritation. Es gab gescheiterte Versuche, ihn in der Coronapolitik zu «entmachten».

Insgesamt aber kann die legislative Verarbeitung der Coronapandemie als gelungen abgebucht werden. Dafür sprechen die drei Abstimmungserfolge beim Covid-19-Gesetz. Zur finanziellen Bewältigung der Pandemie genehmigte das Parlament «Sonderausgaben» von fast 30 Milliarden Franken. Ob die Kompensation bis 2035 gelingt, ist eine offene Frage.

Klima/Energie

Nationalraten Mike Egger, SVP-SG, Albert Roesti, SVP-BE, und Thomas Aeschi, SVP-ZG, von links, jubeln nach den Hochrechnungen der Abstimmungen, zum des CO2-Gesetz, am Sonntag, 13. Juni 2021 in Bern. D ...

Die Gegner des CO₂-Gesetzes, darunter der heutige Bundesrat Albert Rösti, freuen sich über das Nein des Stimmvolks.Bild: keystone

Die Pandemie überschattete die Klimakrise, den eigentlichen Grund für den grünen Wahlerfolg 2019. Untätig blieb das Parlament nicht, doch ein erstes, ziemlich ambitioniertes CO₂-Gesetz scheiterte im Juni 2021 vor dem Stimmvolk. Es war ein herber Dämpfer. Nun nimmt das Parlament einen neuen Anlauf, mit gedämpften Erwartungen.

Die Klimabilanz aber ist nicht einfach negativ. Das Klimaschutzgesetz fand Gnade beim Stimmvolk, und mit dem Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien gelang den Räten rechtzeitig zum Legislaturende ein für hiesige Verhältnisse beachtlicher Wurf, der die Grundlage für die Dekarbonisierung der Energieversorgung legt.

Gesellschaft

Die jüngere und weiblichere Volksvertretung führte zu zwei bedeutenden Fortschritten in der Gesellschaftspolitik. Nach jahrelangem Hin und Her konnte die «Ehe für alle» unter Dach und durch die Volksabstimmung gebracht werden. Und beim Sexualstrafrecht erarbeitete das Parlament eine Kompromisslösung, die auch für Feministinnen akzeptabel war.

Altersvorsorge/Gesundheit

Auf der Reformbaustelle Altersvorsorge gelangen Durchbrüche bei der AHV und der beruflichen Vorsorge (BVG). Die AHV 21 allerdings war eine Mini-Reform, und das Ja des Stimmvolks wird dadurch getrübt, dass die Frauen das Rentenalter 65 mehrheitlich ablehnten. Und bei der Pensionskassenreform steht die Abstimmung noch bevor.

Eine besonders harte Nuss ist die Gesundheitspolitik. Seit Jahren ist keine substanzielle Reform mehr gelungen, um die permanent steigenden Kosten in den Griff zu bekommen. Immerhin ist bei der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Spitalleistungen (Efas) ein Durchbruch in Sicht. Doch die Gegner wetzen schon die Messer.

Steuern/Wirtschaft

Die Legislatur stand im Zeichen einer wachsenden Skepsis gegenüber der Wirtschaft. Auch deshalb gelang es der SP, drei Steuerentlastungsvorlagen der bürgerlichen Mehrheit (Kinderzulagen, Stempelabgaben, Verrechnungssteuer) mit dem Referendum zu bodigen. Bei der OECD-Mindeststeuer allerdings verkalkulierte sie sich mit ihrer Nein-Parole.

Warnsignale waren auch das knappe Ja zum Freihandel mit Indonesien und vor allem die Konzernverantwortungsinitiative. Früher wäre eine solche Forderung belächelt worden, nun scheiterte sie einzig am Ständemehr. Kein Wunder, suchen die Wirtschaftsverbände den Schulterschluss mit dem kampferprobten und erfolgsgewohnten Bauernverband.

Eine weitere Hiobsbotschaft war der Untergang der Credit Suisse, die vom Bundesrat per Notrecht an die UBS «verschachert» wurde. Nicht zur Anwendung kam das «Too big to fail»-Gesetz, zum Ärger vieler Parlamentarier. Sie beschlossen erstmals seit fast 30 Jahren die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK).

Aussenpolitik/Verteidigung

epa10692414 Ukrainian President Volodymyr Zelensky is displayed on a screen in front of the empty seats of the members of right wing party SVP during his speech to the members of the Swiss parliament, ...

Am 15. Juni sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video zum Parlament. Die SVP-Fraktion boykottierte die Rede.Bild: keystone

Die zweite grosse Krise war die Rückkehr des Angriffskriegs nach Europa. Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 überforderte die Schweizer Politik und setzte unser Verständnis von Neutralität einem Stresstest aus. Dies zeigte sich bei der holprigen Übernahme der EU-Sanktionen und beim permanenten Druck aus dem Ausland.

Zügig reagierten die Räte dafür bei der Aufrüstung der Armee. Ihr Budget soll deutlich erhöht werden. Verteidigungsministerin Viola Amherd will die Zusammenarbeit mit der NATO verstärken. Dies provoziert Widerstand von rechts. Von links kam Amherd unter Druck, weil sie den Kauf des Kampfjets F-35 trotz einer hängigen Volksinitiative durchdrückte.

Ebenfalls in dieser Legislatur wurde das Kriegsmaterialgesetz verschärft. Nun soll es wieder gelockert werden, um Drittstaaten die Weitergabe von Schweizer Rüstungsgütern an die Ukraine zu ermöglichen. In diesem Punkt hat sich das Parlament nicht mit Ruhm bedeckt. Erste Anläufe scheiterten unter anderem an Parteiengezänk zwischen FDP und SP.

Nur in der Zuschauerrolle befand sich das Parlament, als der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der EU für gescheitert erklärte. Mitglieder der Aussenpolitischen Kommissionen äusserten sich verärgert darüber, dass sie nicht wenigstens konsultiert wurden. Die Aufgabenteilung in der Aussenpolitik ist ein ewiges Streitthema.

Fazit

Unter dem Strich ist die Bilanz der «Krisen-Legislatur» gar nicht schlecht. Sie ist sogar besser als jene der letzten, «normalen» Amtsperiode, die nach dem Rechtsrutsch bei den Wahlen 2015 durch Stillstand und Reformstau geprägt war. Grosse Würfe in der Klimapolitik, die sich die jungen Aktivisten nach dem «Grünrutsch» erhofft hatten, blieben jedoch aus.

In unserem System der halbdirekten Demokratie sind sie nicht einfach umzusetzen. Das mag angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise bedauerlich sein, dennoch wurde in der Energiepolitik einiges erreicht, unter anderem mit dem Solar- und dem Windexpress, auch wenn es dafür einen «Anschub» durch die Katastrophe des Ukraine-Kriegs brauchte.