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Kolumne Kaltërina Latifi: Du kannst alles werden, was du willst – äh, nein

Kolumne Kaltërina Latifi Du kannst alles werden, was du willst – äh, nein

Unsere Autorin warnt vor Selbstüberschätzung und erinnert an Nietzsche.

Du kannst alles werden! Dir stehen alle Türen offen! Selten wurden ermutigende Worte so falsch verstanden wie diese. Wir meinen, mit ihnen Kinder und Heranwachsende – vielleicht sogar Menschen jeglichen Alters – in ihrem Glauben zu bestärken, dass ihnen die Welt zu Füssen liege, sie müssten nur danach greifen! Doch damit erzeugen wir in Wirklichkeit eine nicht immer hilfreiche, in manchen Fällen schlicht verheerende «Selbstverschätzung» im anderen.

Wie das? Indem wir damit die Grenzen des Menschen, mit dem wir es womöglich zu gut meinen, entweder nicht wahrhaben wollen oder zumindest glauben, sie überspielen zu müssen. Scheinbar aber lebt es sich besser so. Was im Grunde zu einer gesunden Entwicklung des eigenen Selbst unumgänglich ist, hat mittlerweile den Ruf des Spielverderbers: die Grenze. Bloss keine Grenzen setzen. Wie zuversichtlicher und lebensbejahender wirkt doch ein «Du kannst alles werden». Doch begibt man sich als Alles-Werdender einmal in die grosse weite Welt hinaus, zeigt einem das Leben oft den Stinkefinger: «Das kannst du eben nicht!»

Es bleibt zurück ein fader Nachgeschmack: Aber Mutter sagte doch – !? Was anders kann man also nun tun, als der Welt die Schuld zu geben für das eigene (scheinbare) Unvermögen? Ich würde ja wollen, doch die Mitmenschen hindern mich daran. Wiederum andere, das ist die andere Seite derselben Medaille, sind sauer auf ihre Eltern, weil diese sie nicht (oder nicht genügend) mental unterstützt hätten. Wenn sie nur gesagt hätten: «Du kannst alles! Werde alles!» Was aber der nahezu religiöse Glaube an das Alles-Können und Alles-Werden tatsächlich erzeugt, ist vermehrte Leere in uns. Wir tragen diesen inneren Konflikt nach aussen und meinen, dort die Antwort zu finden. Vor lauter Alles-sein-Können im Leben draussen genügen wir uns selbst nicht mehr in unserem Inneren. Und so dreht sich das Hamsterrad des An-sich-selbst-Vorbeizielens und Sich-nicht-genügen-Könnens weiter und weiter …

Eine direkte Konsequenz dieser mit Samthandschuhen vorangetriebenen (Selbst-)Illusion zwecks gut gemeinten Empowerments anderer, sind die identifikatorischen Bewegungen unserer heutigen Zeit. Immer mehr Menschen scheinen einen nahezu existenziellen Drang zu verspüren, sich nicht nur mit etwas, sondern als etwas zu identifizieren, «to identify as». Sich als ein bestimmtes Geschlecht oder Nicht-Geschlecht identifizieren, als Mensch, der auf eine gewisse Art lebt oder einem spezifischen politischen Lager angehört und so weiter, um aus dieser selbst ernannten Gleichsetzung das (scheinbar) Eigene zu schöpfen. Wehe, jemand stellt das infrage. Mir steht doch die Welt offen!

Einen wesentlichen Schritt übersieht man bei alldem in der Regel: Dem Werden geht ein Suchen voraus, eine nach innen gewandte Erkundung. Die mittlerweile Klischee gewordene Suche nach sich selbst, nach dem, was man ist. Erkenne dich selbst, müsste die Devise lauten, dann hast du alles. Wenn wir also jemandem sagen, er könne alles werden, wäre es ehrlicher zu ergänzen: was in dir angelegt ist, und was das ist, musst du selbst erst aufspüren. Aber Nietzsche hat es so viel schöner gesagt: «Werde, der du bist.»

Kaltërina Latifi ist Essayistin und Literaturwissenschaftlerin.Mehr Infos

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